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Um gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen, braucht es einen belastbaren Kontakt in Politik und Verwaltung. Aber wie spricht man Entscheidungsträger*innen an und findet Personen in Schlüsselpositionen, die einem auch zuhören? Die Lebenshilfe Frankfurt gibt einen Einblick in ihre Lobbyarbeit.

Volker Liedtke-Bösl ist geschäftsführender Vorstand der Lebenshilfe Frankfurt. Wenn Liedtke-Bösl über politische Arbeit redet, dann spricht er nicht von Lobbying, sondern von Interessensvertretung für die Belange von Menschen mit Behinderung.

Die Lebenshilfe Frankfurt finanziert sich größtenteils von Mitteln der öffentlichen Hand. Deshalb ist es für den Verein besonders wichtig, dass in Politik und Gesellschaft ein Verständnis für die Arbeit des Vereins besteht. Doch wie genau geht der Verein dabei vor? Volker Liedtke-Bösl teilt sieben Tipps für erfolgreiche Lobbyarbeit im sozialen Bereich.

1. Klarheit schaffen: Wofür stehen wir?

Interessensvertretung ist kein Selbstzweck. In einer gemeinwohlorientierten Organisation sollten daher alle Beteiligten genau wissen, wofür die Organisation eigentlich steht. Ziele und Werte müssen definiert und auch gelebt werden. Erst wenn diese Grundlagen geschaffen sind, kann ein Verein sich auch so nach außen vertreten, dass er glaubwürdig erscheint und breitenwirksam ist.

Die Lebenshilfe Frankfurt setzt sich dafür ein, dass alle Menschen Zugang zu Bildung, Wohnraum und passenden Unterstützungsangeboten haben. Diese Definition von “Inklusion” muss von allen Mitarbeiter*innen geteilt werden, einschließlich eines positiven Menschenbildes, dass niemanden benachteiligt.

2. Recherche: Mit wem wollen wir kommunizieren?

Statt allen alles zu erzählen, empfiehlt sich zunächst eine Zielgruppenanalyse, mit der ermittelt wird, wer denn eigentlich die Adressat*innen sind.

Wenn von Lobbyarbeit oder Interessensvertretung die Rede ist, denken viele an den direkten Dialog mit politischen Vertreter*innen. Häufig sind aber Kontakte in die Verwaltungsebenen deutlich relevanter, weil ebenjene Verwaltungsmitarbeiter*innen Entscheidungen für die Politik vorbereiten. In diesem Sinne sollten Verwaltung und Politik stets gemeinsam mitgedacht werden; das eine funktioniert nicht ohne das andere.

Zudem gibt es stets Interessensgruppen, auf die eine Organisation zwingend angewiesen ist, etwa die Förderer*innen, Spender*innen, Dachverbände und auch Teile der Gesellschaft. Auch die sollten nicht aus dem Blick geraten.

Was mit Teilen der Gesellschaft gemeint ist, wird an diesem Beispiel deutlich: Die Lebenshilfe Frankfurt setzt sich unter anderem für Inklusion in der Bildung ein und möchte, dass Kinder mit Behinderungen die Schule besuchen können. Dazu braucht sie nicht nur den Gesetzgeber, sondern auch das Einverständnis der Lehrkräfte, der Eltern, der Mitschüler*innen. Sie ist angewiesen auf einen breiten Konsens, dass Menschen mit Behinderungen an allen Bereichen der Gesellschaft teilhaben können. Nicht zuletzt braucht sie Kostenträger (= staatliche Stellen) und Sponsor*innen.

3. Erste Gespräche: Was haben wir gemeinsam?

Auf Basis der Recherche sollte dann Kontakt zu denjenigen Personen hergestellt werden, deren Profil zum Aufgabenbereich der Organisation passt. Ratsam ist hier eine persönliche Kontaktaufnahme, denn per E-Mail bekommt man selten ein Gefühl für sein Gegenüber. Denkbar wäre eine Einladung zu einem Event, einer Diskussionrunde etc. Volker Liedtke-Bösl rät dazu, so einen Kennenlerntermin nicht zu überfrachten, sondern langsam anzugehen und erstmal zuzuhören. Das Gegenüber sollte nach eigenen Interessensgebieten, Wünschen und Schwerpunktthemen gefragt werden. Wenn sich Anknüpfungspunkte zeigen, ist das ein guter Moment, um die eigenen Themen zu platzieren. Aber eben auch erst dann.

Jemand, der sich für die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund einsetzt, teilt zum Beispiel mit der Lebenshilfe Frankfurt den Wunsch nach einer offenen Gesellschaft, in der jeder Mensch seinen Platz findet. Auf Grundlage dieser Gemeinsamkeit kann dann eine fruchtbare Auseinandersetzung und gegenseitige Unterstützung stattfinden.

4. Kontaktpflege: Was tun, um nicht zu nerven?

Wer mantraartig immer wieder die gleichen Botschaften wiederholt, ohne dem Gegenüber zuzuhören, die*der nervt und wird auf taube Ohren stoßen. Kontaktpflege bedeutet, zuzuhören, sich gegenseitig zu unterstützen und auf Gemeinsamkeiten zu setzen. Es geht darum, Beziehungen aufzubauen, die für beide Seiten wertvoll und hilfreich sind.

Die Lebenshilfe Frankfurt hat die Erfahrung gemacht, dass politische Interessensvertreter*innen durchaus ein eigenes Interesse daran haben, mit ihr in Kontakt zu treten. Sie trifft stets auf Gesprächsbereitschaft. Denn die Politik befindet sich in einer ähnlichen Situation: Sie ist gefordert, ihr Handeln zu erklären und zu vertreten, sie braucht Verbündete.

5. Sichtbarkeit: Wie werden wir Teil des Diskurses?

Wer Kontakte erst dann sucht, wenn es schon brennt, wird Schwierigkeiten haben, seine Themen zu positionieren. Interessensvertretung ist ein langfristiger und teils zäher Prozess. Damit er gelingt, braucht es einen langen und regelmäßigen Atem. Man muss regelmäßig an Veranstaltungen teilnehmen, bereits sein, sein Expert*innenwissen weiterzugeben und anderen zu helfen. Erfolgreiche Lobbyarbeit im sozialen Bereich beruht auf einer Wechselwirkung von Geben und Nehmen.

An Eröffnungen, Neujahrsempfängen und anderen Veranstaltungen nehmen Vertreter*innen der Lebenshilfe Frankfurt regelmäßig teil. Liedtke-Bösl ist außerdem Mitglied der Magistratskommission Integration und Vielfalt. Dort bringt er regelmäßig die Interessen von Menschen mit Behinderungen ein. Gleichzeitig unterstützt er Politiker*innen, die sich für das Thema interessieren und tritt als Experte auf.

6. Organisation: Brauchen wir dafür eine eigene Stelle?

Jede*r Mitarbeiter*in, jedes Vereinsmitglied und jede*r ehrenamtlich Engagierte vertritt die Organisation. Mit jedem externen Kontakt werden die Werte und die Botschaft des Vereins oder der Stiftung nach außen getragen. Deshalb ist es so wichtig, mit einer Stimme zu sprechen (siehe Punkt 1). Interessensvertretung wird also von vielen Menschen betrieben. Es lohnt sich jedoch, dass eine Person den Hut für das Thema aufhat und die die Kommunikation koordiniert.

Volker Liedtke-Bösl sieht Öffentlichkeitsarbeit als eine sogenannte Querschnittsaufgabe, die nicht nur von Führungskräften erledigt wird, sondern etwa auch von den Teilhabeassistent*innen in den Schulen. Treten diese überzeugend auf und machen ihre Arbeit gut, dann ist das bereits Lobbyarbeit für das Thema Inklusion.

7. Resilienz: Was tun in der Krise?

Viele der hier genannten Tipps erfordern die Möglichkeit der direkten Begegnung. Doch auch auf digitalem Wege kann man sich vernetzen, an Veranstaltungen teilnehmen und Lobbyarbeit betreiben.

Die Lebenshilfe Frankfurt musste sich im März 2020 neu aufstellen, denn infolge Corona fielen die klassischen Kommunikationswege weg. So wurden vertraute Kontakte aus der Politik und Verwaltung nunmehr digital angesprochen, auch mit Unterstützung des Landesverbandes. Der wertschätzende, transparente und ehrliche Umgang aller Beteiligten trug am Ende Früchte.

Rückblickend teilt Volker Liedtke-Bösl, dass die Lebenshilfe Frankfurt seit Beginn der Corona-Krise sogar mehr Kontakte pflegen kann. So besteht nun eine gute Zusammenarbeit mit anderen Frankfurter Träger*innen, die es vorher nicht gab. Auch nimmt die Lebenshilfe Frankfurt heute an Videokonferenzen teil, zu denen sie vorher gar keinen Zugang hatte. Die Interessensvertretung wurde intensiviert, etwa wenn es um die Belange von Menschen mit Behinderung im Kontext der Corona-Verordnungen geht.

Autorin: Merle Becker